Bildung. Für den Beruf und für das Leben

Bildung. Für den Beruf und für das Leben.

Edgar, Leidy und Oscar: Drei junge Menschen aus Bogotás armutsgeprägten Vorstädten auf dem Weg ins Berufsleben. Trotz schwierigen Umständen haben sie einen Weg gefunden, eine hoffnungsvolle Zukunft aufzubauen. Ihre Geschichten zeigen, wie ganzheitliche Berufsbildung, begleitet von psychosozialer Unterstützung, eine Brücke in ein selbstbestimmtes Leben bietet.

Reportage: Hanspeter Bundi, Fotos: Charlie Cordero (Fairpicture)



«Es waren verlorene Jahre», sagt Edgar Buitrago, während er über die Zeit vor seinem Autounfall und vor der Berufslehre nachdenkt. Unter der Woche hangelte er sich von einem Gelegenheitsjob zum andern – manchmal verdiente er, manchmal nicht. «Ich habe von Wochenende zu Wochenende gelebt», erzählt Edgar. Dann war er mit Freunden unterwegs – einer besass ein Auto. «Ich hatte keine Hoffnungen, Pläne oder Vorbilder.»

In den schnell wachsenden Vorstädten südwestlich von Bogotá war Edgar nicht allein mit dieser Perspektive. Auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg suchten Millionen an den noch unbebauten Rändern der Metropole nach einem besseren Leben. Im Laufe der Jahre entstanden Strassen, Wohnblöcke, Schulen und Trinkwasserversorgungen, doch die Armut blieb für die meisten Menschen bestehen. Sie sammeln Abfälle oder mühen sich als Tagelöhner*innen im informellen Sektor ab – schlecht bezahlt und ohne Sicherheit für den nächsten Tag.

Viele Jugendliche haben zudem Gewalt erfahren, sei es von den Guerilleros und Paramilitärs des Bürgerkriegs, sei es daheim. Die notwendigen Strategien, um im Arbeitsleben Fuss zu fassen oder eine Ausbildung durchzustehen, fehlen ihnen oft. Viele von ihnen, die Männer vor allem, reagieren mit Wut und Gewalt auf die Perspektivenlosigkeit. Für einige erscheinen die bewaffneten Banden als eine wirtschaftliche Alternative. Die Fähigkeit, Konflikte konstruktiv zu lösen, ist während des jahrzehntelangen Bürgerkriegs bei vielen Jugendlichen verlorengegangen.

Für solche Jugendliche haben Vivamos Mejor und ihre Partnerorganisation Apoyar vor neun Jahren das ganzheitliche Berufsbildungsprogramm Brücken ins Berufsleben auf den Weg gebracht. Grundlage für das Programm ist eine Beobachtung, die in der Berufsbildung – auch in der Schweiz – immer häufiger gemacht wird: Eine rein fachliche Berufsausbildung ist kein Garant für eine erfolgreiche berufliche Integration – besonders bei vulnerablen Jugendlichen.

Brücken ins Berufsleben vereint deshalb zwei wichtige Aspekte zur Vorbereitung der jungen Menschen auf das Erwerbsleben: Fachliche Berufsausbildung begleitet von Youth Empowerment. Das bedeutet, dass die Lernenden nicht nur berufsrelevante Fähigkeiten erwerben, sondern sich auch psychisch und sozial auf die Anforderungen der Arbeitswelt vorbereiten können.

Edgar erinnert sich daran, wie es war, als der Autounfall ihn an den Rollstuhl fesselte. Er war 22 Jahre alt und hatte keine Vorstellung davon, wie sein neues Leben aussehen sollte. Von den vermeintlichen Freunden meldete sich keiner mehr. «Ich zog mich zurück und versank in Einsamkeit.»

Sieben Jahre danach bin ich per Videocall bei ihm zu Besuch. Edgar zeigt mir seine neue Wohnung: Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmer, Abstellkammer, Waschmaschine. Die Büroecke für das Homeoffice. Heute arbeitet er fest angestellt für den telefonischen Kundendienst eines grossen Energieanbieters. Sein Plan für die Zukunft: Er will Elektrotechniker werden.

Was ihn wirklich auf das Berufsleben vorbereitet habe, sei die Mischung aus technischen Fähigkeiten und Youth Empowerment gewesen. «Die Leute von Apoyar haben nicht zugelassen, dass ich mich zurückzog», sagt er. Schon in den ersten Tagen der Ausbildung kam eine Psychologin bei ihm vorbei, und im Verlauf des Ausbildungsjahres wurde er den Workshops jede Woche aufs Neue mit sich konfrontiert. «Ich wurde gezwungen, mein eigenes Leben zu gestalten.»


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Das Programm Brücken ins Berufsleben

Brücken ins Berufsleben beschränkt sich nicht auf die fachliche Berufsausbildung, sondern verbindet diese mit der psychosozialen Stärkung der Jugendlichen, auch «Youth Empowerment» genannt. In diesem Teil des Programms werden die Jugendlichen individuell begleitet und trainieren in regelmässigen Gruppentreffen ihre Soft Skills. Sie arbeiten beispielsweise an ihrem Selbstwertgefühl, an Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, einem professionellen Auftreten und an ihrem Durchhaltevermögen. Sie lernen auch, den gefährdeten Friedensprozess in Kolumbien zu verstehen und Konflikte konstruktiv zu lösen. Die fachlichen Berufsfähigkeiten wiederum erlernen die Jugendlichen in einem staatlichen Berufsbildungsinstitut. Nach ihrem Abschluss werden die Teilnehmenden sechs Monate lang weiter begleitet und erhalten Unterstützung bei der Stellensuche.


Mittwochvormittag, 10 Uhr. In den Schulungsräumen der Partnerorganisation Apoyar findet der wöchentliche Soft Skills-Workshop statt. Heute behandelt der Workshopleiter Francisco Carillo einen klasseninternen Konflikt, der kürzlich aufgebrochen ist. In engagierten Voten gehen die Jugendlichen darauf ein, sprechen über sich und über ihre Gefühle. Sie legen dar, wie sie die Situation erlebt haben, vergleichen sie mit ähnlichen Situationen in ihrem Leben und beschreiben, was sie damals richtig oder falsch gemacht haben.

Es ist auffällig, wie sie alle offen sprechen und mit sicheren Worten. Einander zuhören. Niemand ergeht sich in langen Referaten. Niemand wird diffamiert. Es ist, als wären die 30 jungen Frauen und Männer dabei, ein Lernvideo für respektvollen Umgang miteinander zu drehen. Manchmal lachen sie. Einmal keimt Applaus auf.

«Waren sie schon immer so durchdacht und respektvoll?», frage ich Francisco. «Wenn junge Menschen merken, dass sie ernst genommen werden, dann handeln sie überlegt und gefasst», antwortet er.

Unter den Teilnehmer*innen ist auch Leidy Avendaño, 18 Jahre alt. Nach dem Workshop frage ich sie, was es mit dem Zwischenfall in der Klasse auf sich habe: «Gewalt? Beleidigungen? Übergriffe?» Ich bin auf eine ausweichende Antwort gefasst. Doch Leidy antwortet klar und entschieden: «Das will ich nicht sagen! Was in der Klasse geschieht, bleibt in der Klasse!»

Angesprochen auf das Programm Brücken ins Berufsleben, erzählt Leidy begeistert, es öffne für sie mehr als nur eine Türe. «An vier Tagen lerne ich, eine gute IT-Technikerin zu sein. Und am Mittwoch lerne ich, ein guter Mensch zu sein.» Noch nie vorher sei sie von Lehrpersonen nach ihrem Befinden gefragt worden. Noch nie habe sie mit Mitschüler*innen über ihre Probleme gesprochen. «Früher fühlte ich mich minderwertig und verloren. Doch hier machte ich zum ersten Mal die Erfahrung, dass meine Meinung wertvoll ist.»

Den halben Weg ihrer Ausbildung hat Leidy schon geschafft. In wenigen Wochen wird sie das Berufsbildungsinstitut verlassen und ihre Praktikumsstelle antreten. Zum ersten Mal in ihrem Leben wird sie eine gesetzlich verfügte Entschädigung erhalten, mindestens 150 USD im Monat. Danach steht die Diplomfeier an. Sie wird sich eine schwarze Robe besorgen und ihre Mutter wird stolz dabei sein, wenn sie das Diplom in die Höhe hält.

Auch nach dem Abschluss kann Leidy auf die Unterstützung von Brücken ins Berufsleben zählen. Fachleute helfen den Absolvent*innen bei der Stellensuche und klären sie über ihre Rechte und Pflichten auf. In Gesprächen mit erfahrenen Sozialarbeiter*innen können die Jugendlichen auch über ihre Ängste und Sorgen in der noch ungewohnten Arbeitswelt sprechen.

Einer, der auch diese letzte Phase hinter sich gelassen hat, ist der 19-jährige Oscar Avila Acevedo. Der ehemalige Programmteilnehmer arbeitet als Motorradmechaniker in der Werkstatt eines Unternehmens, das Filialen in ganz Zentralamerika und in Kolumbien unterhält.

Oscar trägt makellose schwarze Werkstattkleider und eine Baseballmütze der Boston Red Sox – aber keine Handschuhe. Er sagt, sie würden sein Gefühl für die Motorräder beeinträchtigen. Aufgebockt vor ihm steht eine schwarze Pulsar 160 Injection. Ein Routineauftrag steht an: Ölwechsel, Bremskontrolle, Filterreinigung. Oscar bewegt sich schnell und geschickt. Da ist kein Zögern, kein Suchen. Jedes Werkzeug ist an seinem Platz. Jeder Handgriff sitzt.

Nach eineinhalb Stunden, recht genau die Zeit, die für einen solchen Service vorgesehen ist, stellt Oscar das Motorrad auf den Boden zurück und stösst es zum Kunden, der schon darauf wartet. Ein selbstbewusster junger Arbeiter, der weiss, was er kann. Oscar wischt seine Werkzeuge sauber und stellt sie zurück in den Schrank. Hinter ihm ist eine Liste mit den Aufgaben, die heute noch zu erledigen sind. Der Tag ist noch lang, doch das macht ihm nichts aus. Die Arbeit gefällt ihm. Oscar ist verrückt nach Motorrädern. «Er ist ein Junge, der seine Arbeit liebt und in ihr aufgeht. Er hat die Leidenschaft, die es für seine Arbeit braucht», sagt Johnny Alexis, sein 29-jähriger Chef.


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Neue Studie zeigt: Youth Empowerment wirkt!

Die ersten Jahre von Brücken ins Berufsleben waren erfolgreich: 75% aller Jugendlichen fanden nach Abschluss der Ausbildung Zugang zum formellen Arbeitsmarkt. Vivamos Mejor und Apoyar waren überzeugt, dass die erfreulichen Zahlen vor allem dem Youth Empowerment zu verdanken sind. Doch sie wollten ihre Einschätzungen mit Fakten überprüfen lassen und gaben bei der Universität Lausanne und der Universidad de los Andes in Bogotá eine Wirkungsstudie in Auftrag. Nun ist diese Studie abgeschlossen und die Antwort der Wissenschafter*innen ist eindeutig: Vulnerable Jugendliche, die psychosozial begleitet und in ihrem Charakter gestärkt werden, leiden weniger unter Stress und Depressionen. Zudem verdienen sie mehr als ihre Altersgenoss*innen, die kein Youth Empowerment erfahren haben. Auch das Kosten-Nutzen-Verhältnis ist viel besser als bei rein fachlichen Berufsausbildungen.



Gelber Hintergrund