Frau am Ernten in Guatemala

«Der Hunger wird weiblicher»

Interview von elleXX mit Sabine Maier

«Der Hunger wird weiblicher»


Frauen sind weltweit hauptsächlich für die Nahrungs- und Wasserbeschaffung zuständig, leiden jedoch öfter unter Mangelernährung und Hunger. Die Medienplattform elleXX hat Sabine Maier, Geschäftsleiterin von Vivamos Mejor, zu den alarmierenden Ergebnissen des Sufosec-Ernährungsberichts interviewt.

 

Das Gespräch führte Gabriella Alvarez-Hummel.
Wir publizieren das Interview mit Genehmigung von elleXX.
Den Artikel auf ellexx.com lesen.

Sabine Maier

elleXX: Sabine Maier, Frauen bekommen weltweit weniger zu essen als Männer. Wie erklären Sie sich das?

Sabine Maier: Natürlich hat es damit zu tun, dass Frauen noch immer oft keine gleichberechtigte Stellung in der Familie haben. Studien belegen, dass lediglich 20 Prozent der Frauen Land besitzen. Frauen leiden mehr an Anämie, also an Blutarmut, weil sie sich zu wenig gut ernähren und oft nur essen, was nach der Versorgung von Mann und Kindern noch übrig bleibt. Dahinter stecken strukturelle, patriarchale Gründe.

Was heisst das? Warum steigt die Zahl der hungernden Frauen?

Dass der Anteil der Frauen stärker zunimmt, hat unter anderem damit zu tun, dass in vielen Ländern in der Krise die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern wieder zugenommen hat. Global gesehen sind Frauen öfter im unregulierten Arbeitsmarkt tätig und haben öfter prekäre Jobs, die in Krisen als erste wegfallen. Frauen haben auch weniger Zugang zu Kapital und können Einkommensengpässe weniger gut abfedern. Hinzu kommt, dass in vielen Ländern während der Coronapandemie Schulen und Kinderbetreuung monatelang geschlossen waren. Auch das hinderte die Frauen daran, das nötige Einkommen zu erzielen – weil sie es waren, die die Kinder betreuten. All diese Faktoren tragen dazu bei, dass Frauen mehr unter Hunger leiden.


«Frauen leiden mehr an Blutarmut, weil sie oft nur essen, was nach der Versorgung von Mann und Kindern noch übrig bleibt.»


Weltweit ist fast jede dritte Frau im Alter zwischen 15 und 49 Jahren von Blutarmut betroffen. Das sind 571 Millionen Frauen. Beschränken sich die Folgen von Mangelernährung auf den Globalen Süden?

Nein. Mangelernährung ist auch in sogenannten entwickelten Ländern ein Thema, äussert sich aber etwas anders. Mangelernährung heisst, dass man nicht ausgewogen genug isst. Das ist oft auch eine Frage des Budgets und des Wissens. Es kann also sein, dass man zwar Mangelerscheinungen wie Blutarmut hat, aber übergewichtig ist. Besonders heikel ist Mangelernährung in der Schwangerschaft. Denn sie hat auch eine Wirkung darauf, dass Kinder bereits zu leicht und zu klein auf die Welt kommen – dass also auch die nächste Generation unterernährt ist. Das heisst: Wenn wir die Ernährung der Frauen verbessern, durchbrechen wir diesen Teufelskreis.

Bedeutet das auch, dass die Entwicklungszusammenarbeit in den letzten Jahrzehnten nur wenig gebracht hat?

In vielen Bereichen hat die Entwicklungszusammenarbeit bedeutende Fortschritte erzielt, das geht oft vergessen. Es sind mehr Kinder und auch mehr Mädchen in der Schule als noch vor 20 Jahren, mehr Menschen können schreiben und lesen. Bis 2015 sank zudem der Hunger weltweit stetig bei Frauen und Männern. Mit den Krisen gibt es einen beunruhigenden Knick in diesen Entwicklungen, der mir Sorgen bereitet. Aber die Frage ist, ob diese Krisen die Ärmsten nicht noch viel härter getroffen hätten ohne die vorangegangene Entwicklungshilfe.


Illustration "Der Hunger wird weiblicher"


Wie kann man gegen die aktuellen Entwicklungen im Bereich der Ernährung vorgehen?

In dem wir die Rolle der Frau in der Gesellschaft systematisch stärken. Beispielsweise haben wir Projekte im Hochland von Guatemala, mit denen wir indigene Frauen in ihrem Selbstbewusstsein stärken und sie in kleinen Schritten ihre Stellung verbessern. Damit sie sich trauen, sich ihren Anteil einer Mahlzeit zu nehmen. Zudem können wir Hunger und Armut grundsätzlich reduzieren, in dem wir lokale Ernährungssysteme stärken und sie krisenresistenter gestalten, beispielsweise durch agroökologische Produktion. Ein Grossteil der Lebensmittel wird noch immer von Kleinbäuer*innen produziert. Aber im globalen Süden gibt es keine Landwirtschaftslehren wie bei uns; Nachkommen wiederholen deshalb oft schädliche Anbaumethoden wie Brandrodungen oder Monokulturanbau.

Weshalb?

Ihr Bildungsstandard ist tief, und sie fallen auf die Marketingversprechungen der industriellen Saatgut- und Düngerverkäufer*innen herein. Hinzu kommen neue Herausforderungen wie ausbleibender Regen, Überschwemmungen, Verlust des fruchtbaren Bodens. So gehen die Ernteerträge weiter zurück. Dagegen kann man viel tun: indem man die Leute ausbildet und gemeinsam mit ihnen resistentere Anbausysteme schafft, die Produkte geschickt kombinieren, die Bodenfruchtbarkeit erhalten und externe, teure Zukäufe reduzieren.

Seit 2015 nimmt der Hunger wieder zu, nachdem er vorher stetig gesunken war. Warum?

Das hat mit der Häufung von Krisen zu tun und mit der Anfälligkeit des heutigen globalen Ernährungssystems. Unser aktuelles globalisiertes Verteilsystem ist zu anfällig für Engpässe bei den Lieferketten und für Preisschocks. Wir hatten in den letzten Jahren in kurzer Abfolge relativ grosse Krisen: Covid, Ukrainekrieg, Klimawandel. Mit Letzterem verändern sich die Produktionsbedingungen rasant: Die Regenmuster verändern sich, extreme Wetterereignisse nehmen zu, neue Schädlinge tauchen auf. Aus meiner Sicht sind das Symptome des Problems, die Ursache ist jedoch, dass zu wenig in lokale Ernährungssysteme und ökologische, kleinbäuerliche Landwirtschaft investiert wurde.

Sie haben das Thema Wasser angesprochen. Welche Herausforderungen gibt es hier?

Wasser ist bereits heute eines der grossen Konfliktthemen auf dem Planeten. Ein Beispiel aus Zentralamerika: Die grosse Herausforderung dort ist weniger, dass die jährliche Wassermenge abnimmt. Das Problem ist die Verteilung: In kürzester Zeit kommt viel zu viel Wasser, dann wieder bleibt der Regen monatelang aus, Quellen trocknen aus, es entstehen Konflikte. Um in den längeren Trockenzeiten Wasser zu haben, ist der Schutz von Waldgebieten extrem wichtig. Wälder sind wie Schwämme, sie speichern Wasser und geben es langsam ans Grundwasser ab. Wenn Wälder schwinden, geht diese Funktion verloren, und das ganze Mikroklima verändert sich. Leider geraten diese Wälder aber wegen der veralteten Anbaumethoden der Kleinbauern unter Druck. Wenn die Leute auf ihren bestehenden Feldern weniger ernten, brennen sie Wald ab für neue Anbauflächen. So setzen sie einen Teufelskreis in Gang.

Sind Frauen nicht auch hauptsächlich für die Wasserbeschaffung zuständig?

Das sind sie. Wenn es weniger Wasser gibt, müssen Frauen mehr Zeit und Arbeit in die Wasserbesorgung stecken. Diese Zeit und Energie fehlt ihnen für produktive Arbeiten. Die Wassersicherheit ist deshalb nicht nur zentral für die Lebensqualität der Frauen, sondern auch für ihre wirtschaftliche Entwicklung.

Sie sind seit bald zwei Jahrzehnten in der Entwicklungszusammenarbeit tätig. Welche Entwicklungen haben Sie in dieser Zeit beobachtet?

Erschreckend finde ich hierzulande aktuell die Diskussionen, mehr Geld ins Militär zu stecken und weniger in die Entwicklungszusammenarbeit. Dabei weiss man, dass Konflikte durch die herrschende, grosse Ungleichheit geschürt werden. Oft geht es um ungerechten Zugang zu Land, Wasser und Einkommen. Ich sehe aber viele positive Entwicklungen: Unser Ernährungsbericht belegt wissenschaftlich, dass Familien ihre Ernährungssicherheit dank Agrarökologie eindrücklich verbessern konnten. Das motiviert mich.


«Alles, was den Klimawandel beschleunigt, verstärkt das Hungerproblem.»


Sind Sie angesichts der vielen Krisen noch optimistisch, wenn Sie in die Zukunft schauen?

Ja, denn Hunger ist menschengemacht, und wir können ihn beenden. Wir können ändern, wohin die Investitionen gehen, wir kennen die nötigen Ansätze und Lösungen. Wenn ich allerdings sehe, wer auf dieser Welt die Entscheidungen trifft – da kommen wir wieder zum Thema Mann und Frau –, stimmt mich das manchmal pessimistisch. Das sind noch zu oft weisse, alte Männer. Wir müssen mehr Diversität bei den Entscheidungsträger*innen erreichen, um klügere, nachhaltigere Lösungen für unsere globalen Herausforderungen zu finden.

Und was kann ich als Privatperson gegen den weltweiten Hunger tun?

Alles, was den Klimawandel beschleunigt, verstärkt das Hungerproblem. Wir können deshalb unseren ökologischen Fussabdruck reduzieren, möglichst lokal, saisonal und fair einkaufen. Und darauf achten, wie unser Geld wirkt: Ist mein Geld nachhaltig angelegt, oder investiert meine Bank immer noch in klimaschädliche Firmen? Setzt meine Pensionskasse auf nachhaltige Anlagen? Geld ist ein grosser Hebel, und auch die Masse an kleinen Beträgen kann viel bewirken.